Schätzen Sie mal, wie häufig wir jede Woche wegen Problemen im Zusammenhang mit der Schulleistung kontaktiert werden! 5-mal? 10-mal? mehr als 20-mal?
Genau! Mehr als 20-mal klären wir jede Woche vermeintliche Störungen im Zusammenhang mit Schulleistungen ab. Es sind auch viele Kinder, die sich mit Kopfschmerzen, Bauchschmerzen, Herzrasen, Schwindel oder noch intensiveren Problemen vorstellen. Und es sind zu mehr als 80% Mädchen. Echte organische Befunde sind die Ausnahme.
Alles entsteht durch einen Druck, der auf die Kinder einprasselt – durch den Konflikt zwischen Erfolgsstreben (das ja auch seine guten Seiten hat) und Versagensangst. Deshalb sind es auch meist sehr gute und ehrgeizige SchülerInnen, die sich so bei uns vorstellen.
Und. Es sind selten die Eltern (was viele vorschnell glauben), die bewusst diesen Druck aufbauen. Es kommt aus der Schule. Nicht persönlich auf ein einziges Kind. Nicht persönlich durch den Lehrer. Es ist das System. Was den Druck auslöst, ist das Sich-Vergleichen. Das Messen mit anderen. Die Angst, im Leben zu versagen, wenn man nicht der oder die Beste ist.
Das hat das System in die Kinder programmiert. Indem Kinder bereits ab dem frühen Grundschulalter in einem System von Besser und Schlechter groß werden. Sie werden in einem Alter, in dem ihre Persönlichkeit noch gar nicht die Reife haben kann, beurteilt, teilweise eben auch abgeurteilt.
Wozu dienen Noten aus Sicht der Pädagogen? Sie sollen zu Leistung anspornen. Und Kinder vergleichbar machen. Aber eben nur bezüglich der am Lehrplan orientierten Schulleistungen. Soziale Fähigkeiten, Kreativität, oder Problemlösungsfähigkeiten werden weder ausreichend geschult noch besonders geprüft. Obwohl das genau die Fähigkeiten sind, die die Gesellschaft und auch die Wirtschaft braucht.
Erschwerend kommt hinzu, dass Noten, deren Ziel die Vergleichbarkeit ist, nicht einmal vergleichbar sind. Es ist ja etwa gut belegt, dass verschiedene Lehrer verschiedene Leistungen unterschiedlich bewerten. Ganz zu schweigen von unterschiedlichen Standards in benachbarten Schulen oder gar Bundesländern. Alles zu Lasten der Persönlichkeitsentwicklung der Kinder.
Zusammenfassend:
- Noten sind Unfug. Jedenfalls im Alter bis zur Pubertät.
- Noten schaffen bei vielen Schülern einen falschen Wertmaßstab – und zwar offensichtlich mehr noch bei Mädchen.
- Schlechte Noten belasten zu Unrecht das Selbstvertrauen des jungen Menschen.
- „Erlernte“ Noten täuschen über einen Mangel an für später viel wichtigeren Fertigkeiten hinweg.
- Noten erhöhen den Stresslevel und führen damit zu medizinischen Symptomen und belasten das Gesundheitssystem nicht unerheblich.
Was Sie tun können, lesen Sie hier nächste Woche.
Pingback: Schule ohne Noten ist die Zukunft – 2. Teil – der Kinderarztblog
Was wir tun können? Zuerst einmal die Schulpflicht abschaffen. Es kann doch nicht sein, dass das Kind mal ein paar Wochen Pause von der Schule macht, zum Beispiel auch mit Ziel des Wechsels in eine andere Schule, und die Eltern werden vom Schulamt gleich mit einem Bußgeld bedacht. In fast allen Ländern Europas können Kinder ohne Schule aufwachsen und siehe da: Diese Kinder genießen Lernen ohne Konkurrenzdruck und schütteln den Kopf über die Machtspielchen ihrer Altersgenossen in der Schule.
Ja. Deutschland ist eines der wenigen Länder, das statt Bildungspflicht noch immer die Schulpflicht hat!
Geht man davon aus, wenn diese abgeschafft würde, dass alle zu Hause blieben? Wohl kaum. Und wenn, könnte sich die “obere Riege” mal überlegen, warum!
Ganz meine Meinung!
Erschreckend und traurig…. Wir sind zwar auch Dauergäste beim Kinderarzt, dass aber wegen hoher Infektanfälligkeit und (gut eingestelltem) Asthma bronchiale… Unser Kind hat dies Schuljahr eine Klasse übersprungen, trotz fast dreistelliger Fehltage… Und ja, Druck ist da in der Schule… Aber sind es wirklich die Noten, die diesen verursachen? Es fängt m.E. schon mit den überzogenen Erwartungen an das Arbeitsverhalten von Erstklässlern an, dabei sollten sie ein Arbeitsverhalten ja erstmal lernen… Ein weites Feld…
Danke für den Kommentar. Natürlich ist das Notensystem nur einer der Trigger für Leistungsdruck. Aber das Notensystem zeigt eben das Bestreben, dass immer alles optimiert werden muss. Das mag in Grenzen gut sein, aber nicht in einem dafür unreifen Altern, in dem sich erst die Persönlichkeit entwickeln muss. Es gibt in Europa sehr erfolgreiche Schulsystem ohne Notensysteme bis zum Alter von 10-12 Jahren.
Das ist absolut stimmig. Hinzu kommt, dass Kinder nicht verstehen, was sie lernen, dass sie es nicht sneenden können und dass sie nicht verstehen, warum sie das lernen sollen. Es ist die Salutogenese. Dabei wäre es so einfach und dazu kostensparend, wenn Kinder altersdurchmischt lernen, im eigenen Tempo begreifen und möglichst vielfältige Erfahrungen machen können, DIE SIE SELBST GEWÄHLT HABEN. Ich bin kurz davor, die Hoffnung aufzugeben. Aber Menschen wie Jesper Juul, Margret Rasfeld und Gerald Hüther lassen mich weiter hoffen, dass Veränderung selbst innerhalb dieses verkoksten Systems möglich ist und passiert – in einem System, wo es nur um Vergleich und
Kontrolle geht, Achja: Das System sind Sie und ich. Wir tragen die Verantwortung mit, damit Kinder ihre Empathie nicht verlieren, dass sie zeitgemäss und gehirngerecht ( und damit auch ihren Bedürfnissen entsprechend) begleitet werden. Erziehen kann man sie ohnehin nicht – aber das ist ein Fall für eine ausgedehnte Betrachtung.
Pingback: Kinder brauchen keine Noten, Zeugnisse, Berichte & Co. – aus der Perspektive eines Grundschülers – Begeistert Lernen
“Wozu dienen Noten aus Sicht der Pädagogen? Sie sollen zu Leistung anspornen. Und Kinder vergleichbar machen. Aber eben nur bezüglich der am Lehrplan orientierten Schulleistungen. Soziale Fähigkeiten, Kreativität, oder Problemlösungsfähigkeiten werden weder ausreichend geschult noch besonders geprüft.”
Ist hier in der Argumentation nicht ein Sprung? Dort steht im Grunde, Noten sind ein Übel, weil in der Schule nicht die richtigen Inhalte gelehrt werden.
Ihre übrigen Ausführungen sind zwar recht kurz, aber dennoch interessant. Beziehen sie Ihre Skepsis gegenüber Noten allein auf das Alter bis zur Pubertät?
Danke für den Kommentar. Ich beziehe meine Skepsis auf das Alter, in der Kinder noch nicht die Reife haben, sich selbst vor der KAtegorieierung durch Notendruck zu schützen.
Ich halte unser Bayerisches Schulsystem durchaus für ganz gut, bezieht man den Gedanken des Machbaren mit ein. Immerhin gibt es auch eine gewisse Selbstkritik, wie man an der Rückabwicklung des G8 sieht. Das heisst aber nicht, dass über bestimmte Punkte nicht nachgedacht werden sollte. Und Noten aufzuheben wäre eine verhältnismäßig einfache und durchaus weitreichend sinnvolle Maßnahme.
Heute fand ich auf S. 16 im Fränkischen Tag Bamberg das Interview “Schulnoten machen krank”. Durch diese entschiedene Kritik am untauglichen Bewertungssystem, das besonders Schüler, aber auch Eltern und Lehrer ungesundem Druck aussetzt, las ich zum ersten Mal den Namen Gerald Hofner und freute mich über diese klare Position eines Arztes.
Im Widerspruch dazu steht für mich der Satz, auf den ich in Ihrem Kommentar vom 3.10.16 stieß, in dem Sie das bayr. Schulsystem als “durchaus ganz gut” bezeichnen – ein System, das von Schülern nahezu pausenlos verlangt, Aufträge “von oben” zu bearbeiten und sie in Schularten unterschiedlicher Wertigkeit einsortiert, dabei Freundschaften der Kinder zerreißt und dazu provoziert, dass viele auf ehemalige Mitschüler mitleidig herabschauen. Solange diese trennenden Schularten mitsamt ihrer engen Lehrplanbindung nicht in Frage gestellt werden, wird das unpädagogische Notensystem ein allgemein anerkanntes Instrument bleiben, um Kinder in die entsprechende Schublade einzuteilen bzw. um sie aus einer höheren Schublade in eine niedrigere “abzuschulen”. Sehen Sie das anders?