“Du musst deinen Teller immer leer essen. Ruh dich niemals aus, bevor nicht alles erledigt ist. Widerspreche nie deinen Eltern. Streng dich immer an. Sei niemals faul! Sag nie NEIN, wenn dich jemand um Hilfe bittet.”
Sind auch Sie mit starren Familienregeln aufgewachsen, die Sie noch heute begleiten, in bestimmten Situationen einschränken und unter Druck setzen? Im Laufe des Lebens wird uns zwar klar, wie sinnlos und hinderlich viele dieser Regeln waren. Und doch gelingt es uns nicht, uns davon zu verabschieden. Unbewusst befolgen wir sie viele Jahre, geben sie an Kinder weiter und ärgern uns im Nachhinein über die Folgen.
Unsere Gastautorin Anastasia Weinberg (Bayreuth) ist selbstständige systemische Beraterin und Erzieherin. Als pädagogische Fachkraft mit langjähriger Praxiserfahrung erlebt sie hautnah, welche Schwierigkeiten Kinder, Eltern und Teams tagtäglich überwinden müssen. Sie begleitet Eltern und Pädagog*innen auf dem Weg zu innerer Stärke, Gelassenheit im Alltag mit Kindern, wertschätzender Kommunikation und zu gesundem Selbstschutz. Sie ist Mediatorin in alltags- und lösungsorientierten Workshops. Auf Facebook und Instagram (@systemischpaedagogisch) schreibt sie über aktuelle Themen und persönliche Erfahrungen oder gibt Impulse zu Selbstreflexion und Selbstfürsorge. Kontakt: www.systemisch-paedagogisch.de
Wenn ich KlientInnen zu Themen aus ihrer Herkunftsfamilie berate, setze ich gerne Methoden von Virginia Satir ein. Sie war Familientherapeutin und beschrieb in ihrem Buch “Mein Weg zu dir” einen möglichen Grund, warum es vielen Erwachsenen schwer fällt, sich von starren Familienregeln zu distanzieren: “Keiner möchte seine Eltern gerne enttäuschen, auch wenn wir nach außen so tun, als hätten sie es manchmal verdient.” Sie beschreibt eine Möglichkeit, die Menschen beim Umformulieren alter, starrer und hinderlicher Familienregeln unterstützt. Sie macht deutlich, dass einst erlernte starre Regeln unmöglich zu all den Situationen passen können, in denen wir uns in unserem Leben befinden und sagt: “Wir brauchen Leitlinien, keine Regeln.”
Wie kann es Ihnen gelingen starre Regeln und Muster zu neuen Leitlinien umzuformulieren?
Wenn Sie auf der Suche nach solch einer Regel sind, dann kann es helfen nach Worten wie “immer, nie, ich sollte, ich müsste” Ausschau zu halten. Haben Sie eine starre Regel im Kopf, die Sie zwar gelernt haben aber unmöglich in jeder Situation befolgen können? An die Sie sich ganz unbewusst halten? Die Sie einschränkt und Ihnen ein schlechtes Gewissen bereitet, wenn Sie sie einmal vergessen oder gar gebrochen haben? Eine dieser starren Regeln, die ich in meiner Kindheit gelernt habe und zur Verdeutlichung dieser Methode für Sie umformulieren möchte, lautet: “Tue niemals etwas, nur weil es alle anderen tun.” Sind Sie ebenfalls fündig geworden? Dann gehen Sie wie folgt vor:
- Schritt 1: Schreiben Sie Ihre Regel aus der Ich-Perspektive auf ein Blatt Papier. “Ich darf niemals etwas tun, nur weil es alle anderen tun.”
- Schritt 2: Fügen Sie Ihrem Satz ein “kann” hinzu. “Ich kann niemals etwas tun, nur weil es alle anderen tun.”
- Schritt 3: Fügen Sie Ihrem Satz ein “manchmal” hinzu und formulieren Sie ihn neu. “Ich kann manchmal etwas tun, was alle anderen auch tun.”
- Schritt 4: Fügen Sie Ihrem Satz einen Nebensatz hinzu, der mit “wenn” beginnt. “Ich kann manchmal etwas tun, was alle anderen auch tun, wenn es mich weiterbringt und es mir gut tut.”
Ganz besonders spannend dabei finde ich die Überlegung, aus welchem Grund diese Regel einst entstanden sein könnte. Welche Absicht könnten unsere Eltern mit der Einführung dieser Regel gehabt haben? In meinem Fall wurde die Regel ganz unbewusst von meinen Eltern formuliert, um mich vor Sehnsüchten fernzuhalten, die sie mir aus finanziellen oder anderen Gründen nicht erfüllen konnten. Mit dieser Regel wollten sie mir die Enttäuschung und die Traurigkeit darüber ersparen, dass ich z. B. nicht wie die meisten meiner MitschülerInnen die neueste Markenkleidung tragen konnte.
Aus ihrer Sicht machte diese Regel wirklich Sinn. Doch stand sie mir eine sehr lange Zeit im Weg. Als Erwachsene verinnerlichte ich sie, versuchte mich in vielen alltäglichen Situationen an sie zu halten, möglichst alles anders zu machen – mit der Folge, mich unbemerkt von anderen Menschen zu entfernen. Und nun konnte durch die Umformulierung eine flexible Leitlinie entstehen, die mich animiert genau hinzusehen und zu überprüfen, ob ich dem neuesten Trend wirklich folgen möchte, weil er mir meinen Alltag erleichtert und mich mit anderen Menschen verbindet oder eben nicht.
Wie lautet nun Ihre neue Leitlinie, die aus Ihrer starren Regel entstehen konnte?