Unsere Gastautorin Inke Hummel ist Pädagogin und arbeitet selbständig als Familienbegleiterin bei „sAchtsam Hummel“ sowie als Leiterin für Eltern-Kind-Kurse und Bloggerin. Als Coach mit entwicklungspsychologischer und bindungstheoretischer Ausrichtung unterstützt sie Familien im ersten Babyjahr, in der Kindergarten und Grundschulzeit sowie in der Pubertät. Besonders häufig begleitet sie Eltern mit gefühlsstarken Kindern und verhilft ihnen zu einer gelingenden Eltern-Kind-Bindung. Im Verein „Bindungs(t)räume“ setzt sie sich dafür ein, dass Eltern und Pädagogen die Bedürfnisse von Kindern besser verstehen. Sie ist verheiratet und lebt mit ihrem Mann und den drei Kindern in Bonn.
Ihre Impulse rund um Eltern-Kind-Bindung und mehr findet man auf Twitter unter https://twitter.com/HummelFamilie sowie auf den Blogs https://bindungstraeume.de/ und https://inkehummel.de/blog.
Außerdem stammt aus ihrer Feder die Kinderbuch-Reihe “Der Mönkel” im claus Verlag – mehr Informationen gibt es unter https://inkehummel.de/buecher und https://claus-verlag.de/der-moenkel-und-der-geheimnisvolle-turm/
Dass Inke Hummel das Thema Schüchternheit am Herzen liegt, kann man in ihrem wunderbaren Buch zum Thema lesen: “Mein wunderbares schüchternes Kind”, Humboldt-Verlag, Daten am Textende.
Warum sollen wir überhaupt über Schüchternheit reden?
Gute Frage. Warum ist Schüchternheit ein relevantes Thema für Eltern? Sind schüchterne Kinder nicht eigentlich geradezu ein Hauptgewinn: still, unauffällig, nicht zu risikobereit, einfach in der Begleitung – klingt doch leicht händelbar?!
Übersehen
Genau hier liegt der erste Grund, warum über Schüchternheit gesprochen werden muss, denn schüchterne Kinder werden leicht übersehen. Sie laufen oft mit, kommen nicht an den Punkt, zu äußern, was sie stört oder was sie brauchen. Und in Gruppen oder auch Familien fallen erst einmal die anderen auf: die lauten, wilden Kinder. Um die muss man sich zuerst kümmern, denn sie stören sonst alle anderen. Da ist dann für die Schüchternen kaum noch Kapazität.
Doch die sollte genauso da sein. Dafür müssen wir sensibilisieren. Damit auch diese Kinder das bekommen, was sie zur guten Entwicklung benötigen. Damit auch diese Kinder nicht überfordert werden durch ständiges Übersehenwerden. Denn das kann dazu beitragen, dass Verhalten, das aus Schüchternheit entstanden ist, sich noch mehr verstärkt.
Stattdessen sollen doch auch diese Kinder lernen dürfen, wie sie mit ihrem Temperament gut im Leben zurechtkommen können. Sich ständig für die Lauten zurückzunehmen ist keine gesunde Strategie!
Abgewertet
Der zweite Grund ist die Betrachtungsweise der Schüchternen, wenn doch jemand hinsieht: Sie werden oft negativ bewertet. In Kleinkindkursen sollen sie doch jetzt einfach mal mitmachen, in der Kita sollen sie doch jetzt endlich mal Freunde finden und in der Schule sollen sie sich jetzt doch endlich mal melden. Über den Schatten springen! Nicht so anstrengend und unnormal sein. Ist doch ganz einfach! (Von wegen.)
Das passt nämlich nicht in viele der üblichen Bewertungsbögen und in unser erwachsenes Bild von glücklicher Kindheit und gelungenem Schulalltag. Ist das Kind falsch? An solch einem Punkt kommen Eltern stark verunsichert zu mir in die Beratung. – Aber deshalb an den Kindern herumbiegen? Nein, das ist kein kluger Weg.
Schüchternheit verstehen
Stattdessen müssen wir das Wissen über Schüchternheit vertiefen. Was ist das eigentlich? Und ist es falsch? Was müssen wir Erwachsenen für die schüchternen Kinder tun?
Schüchternheit beschreibt zunächst einmal eine sehr zurückhaltende Reaktion auf etwas Neues. Anstatt neugierig auf Fremdes und andere Menschen zuzugehen, zögern schüchterne Kinder. Oft spielt Ängstlichkeit dabei eine weitere Rolle: das Neue „gruselt“. Diese Art durchs Leben zu gehen ist, ganz wertfrei, ein Gegensatz zu besonderer Offenheit und gelebtem Mut. Keiner der beiden Wege ist schlechter als der andere. Aber Schüchternheit gibt es in verschiedenen Formen, die wir unterscheiden können sollten. Denn manchmal brauchen schüchterne Kinder vermehrt elterliche Unterstützung und manchmal nicht.
Schüchternheit ist eine Eigenschaft, wie es viele gibt: rothaarig, stämmig, optimistisch, laut, sensibel. Ein schüchterner Mensch geht langsamer in ungewohnte Situationen. Aber Schüchternheit ist vielgestaltig, weil sie mit anderen Merkmalen zusammen vorkommt, die stark oder schwach ausgeprägt sein können. Zum Beispiel leichtes Erschrecken, erhöhte Sensibilität, außergewöhnliches Vorausplanen, teilweise auch sprachliches Geschick und gutes Einfühlungsvermögen – Schüchternheit ist bunt und oft auch schön.
Sowohl Schüchternheit als auch Ängstlichkeit sind mit innerer Anspannung beim Erkunden der Welt verbunden. Diese kann unproblematisch und erträglich, aber je nach Ausprägung auch kaum auszuhalten sein. Schließlich können im extremsten Fall Angst und Anspannung dazu führen, dass sich ein Kind minderwertig fühlt und so eingeschränkt, dass es nicht mehr vollwertig am Leben teilhaben kann – aber das ist gar nicht so häufig der Fall.
Manche Menschen zeigen Schüchternheit nur bedingt durch bestimmte Erlebnisse (zum Beispiel einen Umzug oder eine Elterntrennung), nur für eine gewisse Zeit (beispielweise für die Dauer einer fordernden Entwicklungsphase in der Kindheit) oder weil sie es in einer Situation für unbedingt angebracht halten (zum Beispiel aus Höflichkeit). Andere Menschen tragen diesen Grundzug deutlich in sich, ohne dass er sich stark verändert (verbunden mit verschiedenen weiteren, recht typischen Eigenschaften) – ihr Leben lang: schüchtern, still, vorsichtig, ängstlich, zurückhaltend, grüblerisch, ruhig. So ist einfach ihr Temperament. Und das ist okay.
Entscheidend ist, wie sie damit umzugehen lernen!
Inke Hummel, Bonn im Mai 2021 – Pädagogin M.A., Familienbegleiterin und Autorin www.inkehummel.de
Buchtipp: Inke Hummel, „Mein wunderbares schüchternes Kind“ (Humboldt, 2021)